Ich sitze in meiner Dolmetschkabine. Vor mir im Raum eine breite Front von Monitoren, Schaltpulten und Tontechnikern. Durch eine Glasscheibe kann ich in das dahinterliegende Studio blicken, in dem Moderator und Gast gerade konzentriert auf ihre Karteikarten schauen. Die Stimmung ist angespannt, gleich geht’s los. Ich scrolle noch einmal durch meine Unterlagen auf dem Laptop. Die Tür meiner Dolmetschkabine öffnet sich und der Regisseur flüstert mir zu: „Wir gehen live in fünf.“ Ich grinse in mich hinein, denke „witzig, klingt ja wie beim Fernsehen“ und genieße kurz diesen Moment, in dem ich einfach dankbar bin, in einem so aufregenden Beruf arbeiten zu dürfen. Noch einen Schluck Wasser, einmal durchatmen, aufrechte Sitzhaltung, Blick auf den Redner. Die Anspannung weicht der Vorfreude. Auf dem Monitor in meiner Kabine beginnt ein Countdown, der Kameramann im Studio signalisiert dem Moderator die letzten Sekunden – und dann sind wir live.
Was bis vor einigen Monaten noch ein seltenes Vorkommnis im Dolmetschkalender war, hat sich in diesem Jahr immer mehr etabliert: das Dolmetschen von Veranstaltungen, die im Internet für ein erlesenes oder breites Publikum gestreamt werden. Bei einer Veranstaltung, für die ich dieses Jahr im englischen Stream dolmetschen durfte, waren über 10.000 Zuschauer zugeschaltet. Wir erreichen bei solchen Events nun also noch viel mehr Zuhörer als im üblichen Konferenzgeschäft – und damit steigt auch der Anspruch an unsere Dolmetschleistung. Für mich persönlich steigt damit aber auch die Begeisterung für meinen Beruf, den ich vorher schon großartig fand, der nun aber durch das kleine bisschen zusätzlichen Nervenkitzel noch einen Tick aufregender geworden ist.
Zu verdanken haben wir dies der Pandemie. Unternehmen, die durch ständige Absagen und Verschiebungen von Veranstaltungen ihr Publikum nicht mehr erreichen konnten, haben schnell umgeschaltet und sich zum Teil eigene Studios gebaut, aus denen Informationsveranstaltungen oder Pressekonferenzen für verschiedene Zielgruppen live ins Internet gestreamt werden. Standen wir zu Beginn dieser Entwicklung dem Ganzen noch etwas skeptisch gegenüber, haben wir uns heute mit den neuen Settings nicht nur arrangiert, sondern können ihnen auch einiges abgewinnen. Gerade bei gestreamten Events ist meist ein riesiges Produktionsteam im Einsatz. Die Qualität ist hoch und davon profitieren auch wir Dolmetscher. Mit perfektem Ton auf dem Ohr, guter Sicht auf die Redner und der Unterstützung eines Profi-Teams vor Ort sind wir in der glücklichen Lage, uns einfach nur aufs Dolmetschen konzentrieren zu können – traumhafte Arbeitsbedingungen für alle Konferenzdolmetscher.
Ich persönlich empfinde dies als eine sehr positive Folgeerscheinung der Pandemie, da sie unser Einsatzgebiet vergrößert und auch neue Ansprüche an uns stellt. Dank meiner Ausbildung zur Studiosprecherin habe ich das Glück, bei solchen Einsätzen auf ein paar Tricks aus dem Sprecherbereich zurückgreifen zu können. Denn wie im Sprecherstudio sehen wir unser Publikum nicht, wenn wir für ein Streaming-Event dolmetschen, und das stellt ganz andere Anforderungen an uns. Die Zuhörer sollen sich schließlich trotzdem angesprochen fühlen. Und es schadet auch nicht, wenn die Aufregung, die manchmal ja doch vorhanden ist, nicht zu hören ist.
Allen Kolleginnen und Kollegen, die ein Live-Publikum von mehreren tausend Menschen eher als angsteinflößend als beglückend empfinden, kann ich daher zum Schluss noch meinen persönlichen Tipp mitgeben: Lächeln! Wie meine Schwester, die im Bereich der Psychotherapie arbeitet, mir einmal erklärt hat, ist es dem menschlichen Gehirn unmöglich, Angst zu empfinden, wenn man über eine gewisse Zeit lächelt. Wer also nicht ohnehin vor Vorfreude in der Kabine vor sich hin grinst, der darf sein Gehirn einfach mal austricksen. Und schon klingen wir auch viel besser, wenn der Countdown bei Null ist.